Joseph Ratzinger und Hans Küng. Bildcollage. (Bilder: Wikipedia)

Weltkirche

Der Papst und sein schärfster Kritiker

Benedikt XVI. verschwindet hinter der Legende, die Hans Küng von ihm verbreitet hat.

(Dieser Artikel erschien am 1. Februar 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung)

Wurde das absurde Image von Joseph Ratzinger von einem Schweizer produziert? Wirkliche Kenner des späteren Papstes wundern sich jedenfalls über die kabarettreifen Karikaturen, die über diesen Mann durch die Welt geistern. Markus Lanz, der Joseph Ratzinger 2003 erstmals persönlich erlebte, schreibt heute: «Es gibt nicht viele, bei denen mediale Überzeichnung und Realität so sehr auseinanderklafften wie bei Joseph Ratzinger.» Woran liegt das?

Ratzinger hat von sich nie viel Aufhebens gemacht. Dennoch wurde er in den 1960er Jahren der Shootingstar der Theologie. Er kam nicht konservativ von der mittelalterlichen scholastischen Theologie her, sondern von Augustinus, von den Kirchenvätern, er schrieb Kardinal Frings die Reformideen für das II. Vatikanische Konzil auf, von denen Johannes XXIII. so begeistert war. Er arbeitete mit bedeutenden modernen Theologen an den Konzilstexten, mit Yves Congar, Henri de Lubac und anderen, die vor dem Konzil den römischen Behörden verdächtig oder von ihnen gemassregelt worden waren.

Damals traf er in Rom einen Schweizer Theologen, Hans Küng, der zwar viel Aufhebens von sich machte, aber nicht wirklich an den Texten des Konzils mitschrieb. Dennoch gelang es Hans Küng später, den Eindruck zu erwecken, er selber sei der entscheidende moderne Konzilstheologe gewesen und Ratzinger bloss ein Ewiggestriger, der den Geist des Konzils nie kapiert habe.

Das Wesentliche des Glaubens
Damals aber war noch keine Rede von solchen missgünstigen Herabwürdigungen, im Gegenteil. Kurz nach dem Konzil, 1966, konnte man sich noch etwas darauf zugutehalten, den jungen Startheologen mit dem sympathischen bayrischen Akzent von der Universität Münster abzuwerben und nach Tübingen zu locken. Und Hans Küng hielt sich etwas darauf zugute, dass er es war, der Ratzinger an die liberale theologische Fakultät an den Neckar geholt hatte. Ein junger moderner Theologe an einer ziemlich modern tickenden Fakultät, damals passte das gut zusammen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war das Image Joseph Ratzingers noch etwa deckungsgleich mit der Realität: Man wusste, er war mit Leib und Seele Theologe und wich keiner intellektuellen Debatte aus. Persönlich war er bescheiden. Macht interessierte ihn nicht, und er hatte auch kein Händchen dafür, deswegen war er zeit seines Lebens auf Mitarbeiter angewiesen, denen er durch dick und dünn die Stange hielt.

Das war aber auch seine Tragik. Denn da er über keine gute Menschenkenntnis verfügte, ergaben sich daraus Probleme. Schon an der Universität war er von Personalentscheidungen überfordert. In Münster hatte er es noch nicht einmal fertiggebracht, sich von seinem Assistenten zu trennen, mit dem er, wie alle wussten, nicht klarkam. Das war der tiefere Grund, warum er da wegging.

Da waren sie in Tübingen also plötzlich zusammen, Hans Küng und Joseph Ratzinger. Doch nun gingen die Wege des Schweizers und des Bayern auseinander. Küng begann damit, sich an der Institution Kirche abzuarbeiten, Ratzinger war bemüht, modernen Menschen das Christentum zu erklären. 1968 erschien sein erster grosser Bestseller, «Einführung in das Christentum», der in zahllose Sprachen übersetzt wurde. Bis ans Ende seines Lebens stand er zu diesem Jugendwerk. Noch ein Jahr vor seinem Tod hat er mir erlaubt, es für ein breiteres Publikum zu überarbeiten.

Küng dagegen, den der frühe Ruhm seines Kollegen angespornt haben mag, es ihm gleichzutun, drängte mit seinem Buch «Unfehlbar? – Eine Anfrage» zwei Jahre später an die Öffentlichkeit und verdankte seinen Ruf bald seinen populären Attacken auf die Kirche. Während Küng sogar in seinem Buch «Existiert Gott?» auf die Unfehlbarkeit des Papstes zu sprechen kam und so vom Blick auf die Institution nicht loskam, schrieb Ratzinger über Tod und ewiges Leben und versuchte angesichts der nach Konzilien üblichen Exzesse das Wesentliche des Glaubens im Blick zu halten.

«Raufereien» mit Kollegen
Und dann ging Joseph Ratzinger 1969 von Tübingen an die Universität Regensburg. Von diesem Zeitpunkt an beginnen die Legenden. Er selber sagte Markus Lanz und mir in dem letzten Gespräch, das wir mit ihm geführt haben, konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten sei an der hoch politisierten Tübinger Universität damals nicht mehr möglich gewesen. Es habe «Raufereien» mit Professoren gegeben. Er selber sei davon nicht betroffen gewesen. Erschüttert hätte ihn aber, dass gerade die Professoren, die geistig den Randalierern am nächsten gestanden hätten, am meisten zu leiden gehabt hätten. Eine eigentlich ganz plausible Begründung.

Doch Hans Küng hat stets die Legende gefördert, wer von ihm weg, von den Tübinger Tumulten weg ins angeblich beschauliche Regensburg floh, der müsse Angst vor der Moderne haben. Warum? Regensburg war eine moderne Universität mit besten Forschungsmöglichkeiten, Tübingen dagegen eine beschauliche alte Universitätsstadt. Doch die Legende des medienversierten Hans Küng glaubt heute noch jeder. Medial hat Hans Küng gegen Joseph Ratzinger gesiegt.

Und dann geriet 1977 ausgerechnet der an Institutionen nicht besonders interessierte und administrativ unbeholfene Joseph Ratzinger unter das Joch der kirchlichen Ämter. Selbst seine Gegner haben nie bestritten, dass er weder Erzbischof von München noch Präfekt der Glaubenskongregation noch Papst werden wollte. Aber er nahm diese Ämter aus religiöser Pflicht auf sich. In München rettete er sich damit, dass er die bewährten Mitarbeiter einfach übernahm und machen liess.

Und die haben den zurückhaltenden, liebenswürdigen Professor, der jetzt die Mitra trug, offensichtlich nicht mit heiklen Details belästigt, wie die 2022 veröffentlichte Münchner Studie ergab. Auch als Präfekt der Glaubenskongregation stand er hinter seinen Mitarbeitern, die oft enger dachten und handelten als er. Er selber hatte sich von Johannes Paul II. auserbeten, weiter publizieren zu dürfen, und das tat er mit Freude. Dass er aber als Präfekt der Glaubenskongregation auch die Pflicht hatte, zu sagen, was nicht mehr ging, das machte ihm sichtlich keinen Spass.

Als Papst liess er sich von seinen Mitarbeitern wohl dazu bewegen, alte päpstliche Utensilien wieder zu benutzen, um seine theologische Überzeugung von der bruchlosen Tradition zu dokumentieren. Obwohl ihm Äusserlichkeiten nie wichtig waren. Er war immer in einer alten speckigen Soutane über den Petersplatz gegangen. Ihm waren auch die Gewänder, die er als emeritierter Papst trug, wohl herzlich egal.

Die heikle Unfehlbarkeit
Aber wenn ein Papst nach seiner theologischen Auffassung nicht bloss ein Funktionär war, der irgendwann in Rente ging, dann konnte er aus diesem heiligen Spiel nicht einfach aussteigen, dann musste er bis zum Schluss mitspielen. Als ich ihn irgendwann in den Gärten besuchte, deutete er am Ende des Gesprächs auf ein paar Erinnerungsbildchen mit seinem Foto, die seine Mitarbeiter auf den Tisch gelegt hatten: «Da können Sie sich noch eins mitnehmen . . .» Pause und dann aus tiefstem Herzen: «Oder lassen Sie es besser. Dieser Personenkult ist doch schrecklich!»

Man hat mir gesagt, man dürfe in Schweizer Medien zweierlei nicht tun: Joseph Ratzinger loben und Hans Küng tadeln. Ich tue hier beides und hoffe dennoch auf Schweizer Milde gegenüber einem womöglich irrenden Deutschen. Der Unterschied zwischen Joseph Ratzinger und seinem selbsterklärten Widersacher Hans Küng liegt nicht bloss darin, dass Küng mit einem Sportwagen durch Tübingen bretterte, während Ratzinger Fahrrad fuhr. Er zeigte sich auch am Ende: Da schrieb Hans Küng ein dreibändiges Werk: eine Autobiografie. Joseph Ratzinger schrieb auch ein dreibändiges Werk, aber nicht über sich, sondern über Jesus von Nazareth.

Doch in einem waren sie sich einig: Die Unfehlbarkeit des Papstes war wohl für beide etwas höchst Heikles. Tatsächlich hat kein Papst so oft wie Benedikt XVI. betont, dass bestimmte Texte von ihm keineswegs unfehlbar seien und man ihm gerne widersprechen könne. Er sei mit keinem Papst völlig einverstanden gewesen, auch nicht mit Pius XII., sagte er schmunzelnd Markus Lanz und mir, als wir im April 2018 ein grosses Gespräch mit ihm führten.

Er war in diesem Gespräch witzig und schlagfertig wie immer, aber auch unglaublich offen und sagte so Überraschendes, dass wir es jetzt als Buch veröffentlicht haben. Eine der berührendsten Passagen betraf seinen alten Freund Hans Küng. Warum er eigentlich nach seiner Wahl zum Papst Hans Küng eingeladen habe?, fragten wir ihn. Das sei für ihn selbstverständlich gewesen, antwortete Benedikt. Küng habe zu ihm kommen können, wann immer er wollte.

Sie hätten ein gutes Gespräch gehabt, sagte Benedikt, und fügte lachend hinzu, immerhin habe Küng ja danach zwei Jahre nicht mehr schlecht über ihn gesprochen. Er habe sich schon gefragt, was mit Küng los sei. Und dann erkundigte Benedikt sich, ob wir wüssten, wie es Küng gehe. Er habe sich Sorgen gemacht, weil er gehört habe, es gehe ihm nicht gut.
Manfred Lütz

Originalbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung

 

Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Theologe und Buchautor. Am 2. Februar erscheint das von ihm und Markus Lanz herausgegebene Buch «Benedikt XVI. Unser letztes Gespräch» (Kösel-Verlag, München, 96 S., Fr. 27.90).

 


Neue Zürcher Zeitung


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