Ausstellung der neuen Glocken für Notre-Dame de Paris im Jahr 2013. (Bild: Lionel Allorge, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Weltkirche

Die Glöck­ner von Notre-​Dame

Vor gut fünf Jah­ren brannte die wohl wich­tigste Kir­che Frank­reichs lich­ter­loh. Anfang Dezem­ber wird «Notre-​Dame» in Paris wie­der­er­öff­net. Für den rich­ti­gen Ton sor­gen die Wen­sau­ers aus dem nie­der­baye­ri­schen Anzenkirchen.

«Notre-Dame de Paris» ist das Wahrzeichen der Stadt und ein Nationalheiligtum. Als Mitte April 2019 das frühgotische Meisterwerk in Flammen aufging, starrte die Welt auf die Bilder der Verwüstung. Wenn – so der Plan – am 7. Dezember 2024, am Vorabend des katholischen Festtags Mariä Empfängnis, die Glocken der Kathedrale zur Wiedereröffnung erklingen, will die Welt wieder teilhaben.

Und nicht nur die grosse weite Welt, sondern auch ein Dorf im niederbayerischen Rottal. Dort werden die Wensauers die Festlichkeit verfolgen. Die Hammerschmiede des kleinen Familienbetriebs sorgen nämlich für den guten Ton. Ohne ihre Handwerkskunst wäre Stille über den Dächern der Ile de la Cite, der Seine-Insel im historischen Zentrum, so wie in den vergangenen Jahren. Die Rottaler Glockenklöppel verleihen der «Emmanuel», der grössten Glocke Frankreichs, und ihren neun Geschwistern ihre ehernen Stimmen.

Zum ursprünglichen Glanz der Kathedrale nach dem gross angelegten Wiederaufbau ertönt das Geläut, das Victor Hugo mit seinem Roman «Der Glöckner von Notre-Dame» unsterblich gemacht hat.

Martin Wensauer und seine zehn Hammerschmiede sind schon stolz, dass sie Anteil an dem Jahrtausendwerk haben. Der Chef des Familienunternehmens blickt auf eine lange Tradition zurück. Seit 1863 werden in Anzenkirchen Metalle per Hand geschmiedet oder gehämmert. Heute mit Alleinstellungsmerkmal.

Wenn es um Klöppel für Glocken geht, sind die Niederbayern praktisch internationaler Marktführer. Auf einem Turm in Chile, in einem Kriegerdenkmal in Washington, in Hongkong: Man verlässt sich auf die Präzisionsarbeit der Rottaler. Glockengiesser aus aller Welt rufen bei Martin Wensauer an, wenn es genau und auch einmal sehr schnell gehen muss.

447 Kilo Stahl für die «Emmanuel»
So vor wenigen Jahren, als Schweizer Giesser innerhalb weniger Monate Glockenklöppel für das komplette Geläut von Notre-Dame orderten. «Das war schon cool», meint der Chef. «Für diese Kathedrale arbeiten zu dürfen, war für uns eine Auszeichnung.»

Die Geschichte der Kirchenglocken von «Notre-Dame» reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück. 1769 hatte die Kathedrale insgesamt 20 Glocken. 1791 und 1792 fiel ein Grossteil der Glocken jedoch der Revolution zum Opfer. Heute hängen in den beiden Westtürmen von Notre Dame zehn Glocken.
Die «Emmanuel» ist die grösste Glocke der Kathedrale und wird als wohlklingendste Glocke Frankreichs gerühmt. 1685 von drei lothringischen Wandergiessern gegossen, hat sie als einzige Glocke die Wirren der Zeit überstanden und brauchte einen neuen Klöppel. 447 Kilogramm Stahl haben die Hammerschmiede verarbeitet. Jetzt kann die mit ihren geschätzt 13 Tonnen Masse zu den grössten und bedeutendsten Kirchenglocken in Europa zählende «Emmanuel» wieder im Schlagton fis0 -6/16 erklingen.
 


Ein Klöppel muss mit seiner Gewichtsverteilung individuell an die Glocke, den Läutewinkel angepasst sein. Es muss alles stimmig sein; im wahrsten Sinn des Wortes. Wensauer: «So eine Glocke ist eigentlich ein eigenes Musikinstrument.» Das Geläut – ein Orchester aus Bronze.

Um feinste Nuancen geht es, wenn der schwere Schmiedehammer maschinell oder per Hand auf das glühende Erz mit rund 1000 Grad ohrenbetäubend niedersaust. Millimeter-Arbeit mit schwerem Gerät.

Aus einem Stück Stahl muss er geschmiedet werden. Als Einzelstück im Freiformschmieden. Das Schwung- und Flugverhalten ist zu berechnen, der Anschlag an der Glocke.

«Der Klöppel ist vor allem im Bereich des Schaftes sehr hohen Belastungen ausgesetzt», sagt der Firmenchef. Das Schmieden «hat den entscheidenden Vorteil, dass die Materialfasern zwar verformt, aber nicht unterbrochen werden». Somit hat der Klöppel eine höhere Festigkeit, mit der er in kommenden Jahrhunderten die Glocke küssen soll, wie es in der Tradition heisst.

Die «Emmanuel» erklingt ausschliesslich zu besonderen Anlässen und Festtagen. Der 7. Dezember wird ebenfalls so ein Datum sein. Am Vorabend des «Hochfestes der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria», an dem die Pariser das Fest der Patronin ihrer Kathedrale begehen, ist Wiedereröffnung mit einer Vesper. Erzbischof Laurent Ulrich hat im Februar per Hirtenbrief angekündigt: Orgel und Glocken werden wieder erwachen. Am Sonntag, 8. Dezember, findet die erste heilige Messe statt.

Eine «pharaonische Baustelle»
Doch bis dahin war es auch für die Glockenbauer ein steiler und steiniger Weg. Die Joche, also die Aufhängung der Glocken, wurden erneuert. Von einer «pharaonischen Baustelle» sprach Chefarchitekt Philippe Villeneuve, «in einem sehr kurzen Zeitrahmen». Experten aus ganz Europa und ein Heer von Arbeitern haben jetzt fünf Jahre lang getüftelt und geschuftet, um «Notre-Dame» – vor dem Grossbrand von 2019 jährlich von rund 12 bis 14 Millionen Menschen besucht – wieder zum Leben zu erwecken.

Über 2000 Menschen in über 250 Firmen wirkten mit: Steinmetze, Gemälderestauratoren, Dachdecker, Brandschutztechniker, Heizungsmonteure, Elektriker, Tischler, Orgelbauer - und Glockenexperten wie die Rottaler Hammerschmiede.

«Selbst die dunkelste Nacht wird enden und die Sonne wird aufgehen», schreibt Viktor Hugo in «Les Miserables». Das gilt für «Notre-Dame» in diesen Tagen. Die Sonne strahlt durch die mächtige Rosette der Kathedrale in tausend Farben; die Glocken künden vom grossen gemeinsamen Werk. Und die Glöckner von Notre-Dame aus Anzenkirchen dürfen ein paar von diesen Strahlen für sich behalten.


KNA/Redaktion


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