Plakat des diesjährigen Welttheaters in Einsiedeln. (Bilder: Roland Graf/Swiss-cath.ch)

Kommentar

Die Welt auf der Bühne – Das Ein­sied­ler Welt­thea­ter 2024

Die 17. Aus­gabe des «Gros­sen Welt­thea­ters» in Ein­sie­deln fin­det hun­dert Jahre nach der ers­ten Auf­füh­rung statt. Das von Lukas Bär­fuss adap­tierte Spiel auf dem impo­san­ten Klos­ter­platz will die Welt von heute auf die Bühne brin­gen und tut dies auf eine Weise, die zum Nach­den­ken anregt.

Was soll man halten von dieser Welt? Das «Einsiedler Welttheater» 2024 bleibt der Idee Pedro Calderón de la Barcas treu und zeigt die Welt, wie sie heute verstanden wird. Das Theater in Einsiedeln ist aufwendig inszeniert und eindrücklich gemacht, aber hinterlässt den Zuschauer nachdenklich. Denn die auf der Bühne präsentierte Welt ist zwar wild, abenteuerreich und fordernd, aber auch seltsam pessimistisch, plan- und sinnlos. Lukas Bärfuss hat in seiner Adaption des «Grossen Welttheaters» die Welt, wie er sie heute wahrnimmt, auf die Bühne gebracht, aber trotzdem die wichtigste Frage schlichtweg ignoriert: Wieso das Ganze?

Vom «Grossen Welttheater» zum «Einsiedler Welttheater»
Das Welttheater findet nun seit 100 Jahren in regelmässigen Abständen auf dem prächtigen Einsiedler Klosterplatz statt. Die imposante Klosterfassade bildet im Hintergrund die Kulisse des Stücks. Es ist im Grunde genommen der perfekte Ort für die Aufführung eines barocken Theaters wie «El gran teatro del mundo» des spanischen Priesters und barocken Dichters Calderón de la Barca. De la Barca zeigte darin die ganze Welt, von der Schöpfung bis zum Weltende. Calderóns Welt funktioniert christlich: Gott erschafft, regelt, leitet und richtet die Welt und alles, was auf ihr geschieht. Die Menschen müssen die ihnen zugedachte Rolle ausfüllen, seien sie jetzt König oder Bauer, Armer oder Reicher, weise Kloster- oder schöne Lebefrau. Das Motto dieser Welt lautet: «Gott ist dein Freund und du bist sein Diener».
Freilich haben die Menschen einen freien Willen und es gelingt nicht immer gleich gut, die zugeschriebene Rolle dem Willen Gottes entsprechend zu spielen. Trotzdem ist es eine klar strukturierte, auf Gott hin orientierte und mit Sinn gefüllte Welt. De la Barca gab seinen Zuschauern eine Antwort auf die Frage, wieso sie hier sind und was man von ihnen erwartet.

Diese barocke Weltordnung wurde bis zum Jahre 2000 auch auf dem Einsiedler Klosterplatz mehr oder weniger originalgetreu präsentiert. Die Debatte, ob man das Welttheater in der originalen Form überhaupt noch spielen könne, war da aber bereits seit Jahren im Gang: Zu sehr habe sich unsere Zeit von den Vorstellungen des Barocks entfernt. Als historisches Stück mag es für Liebhaber womöglich noch attraktiv sein, aber als wirkliches «Welttheater» im Sinne des Weltverständnisses des 3. Jahrtausends sei es nicht mehr tragbar. Ab dem Jahr 2000 wurde daher aus dem «Grossen Welttheater» das «Einsiedler Welttheater»; von da an wurden Nachdichtungen des Stücks von Calderón de la Barca aufgeführt. Autoren wie Thomas Hürlimann, Tim Krohn und eben Lukas Bärfuss wagten sich seither an die Aufgabe, ein Welttheater zu schreiben und aufführen zu lassen.

Das «Einsiedler Welttheater» nach Lukas Bärfuss
Die Adaption von Lukas Bärfuss nimmt die Vorlage De la Barcas in vielen Punkten auf. Bauer, König, Armer, Reicher, Weisheit und Schönheit sind alle auf der Bühne präsent, auch wenn sie sich dem Theater wegen der Sinnlosigkeit des Ganzen verweigern. Gott wurde zum Autor abgestuft, der aber nicht weniger autoritär der personifizierten Welt diktiert, wie sie das Bühnenbild zu errichten habe. Es sind schliesslich ausgerechnet die ungeborenen Kinder – die im Originalstück eine Minimalrolle innehaben, da sie eben nie geboren werden – die das Weltabenteuer trotzig und fordernd allein auf sich nehmen.
Es folgt ein spektakulär und eindrücklich inszenierter Ritt durch die von De la Barca festgelegten und von Bärfuss ergänzten Aspekte des Lebens. Die Kinder bleiben von harter Feldarbeit und Umweltkatastrophen, Armut und Verzweiflung genauso wenig verschont, wie sie Reichtum, Schönheit und Machtfülle geniessen dürfen. Aber hier zeigt sich bereits, wieso das Werk ein ungutes Gefühl hinterlassen wird: Die kritischen und negativen Aspekte überwiegen bei weitem: Die kurze Liebe endet tragisch. Die Welt ist geprägt von Naturkatastrophen. Der Staat ist primär faschistoid und gewalttätig. Die Armut ist natürlich elend – Reichtum und Schönheit sind wie ein ungesunder Rauschzustand. Den verzweifelten Ausrufen der Protagonistin Emanuela, die mit Fragen der Verantwortlichkeit und Schuld hadert, wird mit Abwinken und Schweigen begegnet. Der einzige Funken der Hoffnung wird am Ende angedeutet, wenn eine neue Generation von Kindern auf die Bühne stürmt, den unbedingten Willen verkündend ebenfalls mitspielen zu wollen. Wieso? Das wird nicht gesagt.
 


Mag der Inhalt auch nachdenklich stimmen, so ist die Inszenierung gelungen. Mit einer grossen Anzahl von Schauspielern, Musik und Spezialeffekten wird der ganze Klosterplatz bespielt. Es gibt leise und laute, lustige und traurige, dramatische und entspannte Szenen. Themen wie Staatsgewalt, Menschenhandel und Umwelt werden eindrücklich vor Augen geführt. Einzig der Priester, der die ihm angebotenen Kinderprostituierten ablehnt, weil er solche auch «umsonst» haben könne, ist ein etwas gar plump geratener und in dieser Form geschmackloser Seitenhieb.

Die Religion ist insgesamt die grosse Abwesende im Stück, was einen grossen Kontrast zum Original darstellt. Jesus tritt zwar als Gekreuzigter auf und versucht Emanuela in ihrem Hader mit der Welt gut zuzusprechen, aber seine wenigen Worte klingen leer, überzeugungsschwach und werden übergangen. Prominenter ist der zunächst dümmliche Arme, der sich den eigenen Pflock aus dem Kopf zieht, sich von seiner Beschränktheit befreit und zusammen mit Emanuela den gottähnlichen Autor stürzt. Was damit gewonnen wurde? Die vom rebellierenden Volk lautstark geforderte Gerechtigkeit stellt sich auf jeden Fall nicht ein. Mit dem Tod des Autors verlässt auch die als Klosterfrau dargestellte Vernunft die Bühne. Zurück bleibt eine rein immanente Welt, die sich dreht und dreht und niemand weiss, wieso und wohin. Man mag den aufgehenden Mond zum Schluss als Symbol der Hoffnung deuten, aber so richtig befriedigend ist es nicht – zumal der Mond gleich wieder ausgeknipst wird.

Ein Spiegel der Zeit
Das «Einsiedler Welttheater» 2024 hält der heutigen Welt gelungen den Spiegel vor. Genau deswegen berührt es und regt zum Nachdenken an. Die Welt wird gezeigt, wie sie heute vielfach wahrgenommen wird. Die von Bärfuss präsentierte Weltsicht ist nicht die einzige Perspektive, die sich finden lässt, aber es ist zweifellos eine in unseren Breitengraden verbreitete Sicht. Aber vielleicht liegt bereits hierin ein Grund, wieso es vielleicht unmöglich geworden ist, noch ein Welttheater zu schreiben: Ein dominantes Verständnis der Welt, ähnlich dem barocken Weltbild, gibt es nicht mehr oder zumindest noch weniger als früher. An die Frage «Wieso?», an eine Deutung der Welt, die über das ewig immanente Weiterdrehen der Erdkugel hinausgeht, wagt sich diese Version des Welttheaters nicht einmal. Das ist vielleicht der grösste Vorwurf, den man dem Stück machen kann. Es zeigt gekonnt auf, was viele Menschen tagtäglich in ihrem Leben bewusst oder unreflektiert wahrnehmen, aber es begnügt sich auch mit diesem Widerspiegeln der Selbstwahrnehmung der heutigen Welt.

Das sinnstiftende Element, das bei Calderón de la Barca die zentrale Aussage des ganzen Theaters ausmacht, fehlt in der Nachdichtung. Die Aussöhnung mit der Welt, wie sie halt ist, kommt etwas verlegen, scheinbar mangels besserer Alternative daher. Möglicherweise ist aber gerade diese grosse Leerstelle des Theaters die wichtigste Aufforderung an die heutige Zeit. Es könnte sich lohnen, das «Gran teatro del mundo» aus dem 17. Jahrhundert mit der aktuellen Adaption parallel zu lesen und vor diesem Hintergrund über Sinn und Unsinn der Welt und die Rolle des Menschen darin nachzudenken.


Max Ammann

MLaw utr. iur. & BTheol. Max Ammann studiert gegenwärtig Theologie mit Spezialisierung in Kirchengeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. Als Jurist setzt er sich vor allem mit Fragen des Staats- und Religionsverfassungsrechts auseinander.


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    Stefan Fleischer 18.07.2024 um 19:43
    Eine Welt ohne den personalen, in der Geschichte handelnden Gott, vor der grossartigen, zu Ehren dieses Gottes erbauten Fassade der Klosterkirche! Man kann das als Bild unserer gottlosen, von Gott losgelösten Welt (und über weite Strecken sogar analog gott-losen Kirche) sehen. Man wirft einen Blick darauf und geht angewidert weiter. Von der christlichen Hoffnung keine Spur.
    Und doch gibt es «kluge und gescheite» Leute (vgl. 1.Kor 2,4) glauben, damit die rasant schwindende Glaubwürdigkeit unserer Kirche wieder herstellen zu können. Doch schon Paulus wusste: «Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.» (1.Kor 1,22-25)
    • user
      Meier Pirmin 22.07.2024 um 07:44

      "Gott wird zum Autor herabgestuft." Dies war schon das Konzept der Calderon-Adaption von Hürlimann, der im Gegensatz aber zu Bärfuss lebenslang ein Dramatiker geblieben ist und Calderon tatsächlich verstanden, auch wenn die zweite Version dann vom aufs Spektakel ausgerichteten allzu ehrgeizigen Regisseur V. Hesse teilweise verderbt wurde. Bei der vorletzten Aufführung wurde beim Bemühen, das Welttheater zu entkatholisieren, mit TK ein dramatisch völlig unbegabter mittelmässiger Autor eingesetzt, insofern war der Tiefpunkt des Welttheaters damit schon erreicht. Es konnte es fast nur noch bergauf gehen und es galt, einen Publikums-Flop zu vermeiden.



      Bärfuss war sich seiner Unkenntnis des Katholizismus insofern bewusst, als er motivmässig , wie hier mitgeteilt, sich vielfach an Calderon anlehnt in der Illusion, ihn zu modernisieren, wobei aber schon seit Jahrzehnten das Welttheater zu 80% eine Regieleistung ist. Hürlimanns Version aus dem Jahre 2000 war wohl die bedeutendste, kaum mehr übertreffbare neuere Leistung eines Schweizer katholischen Dramatikers. Die darauf folgende Version Hürlimann 2 lebte hauptsächlich von der unglaublichen Darstellung von Pater Cassian Etter als "Autor", wobei ich diesen Begriff für die Bezeichnung des Schöpfers zumindest aus neuplatonischer Sicht als sozusagen einer der 100 Namen Gottes nicht daneben ist. Die Auseinandersetzung mit Calderon, der übrigens Priester war und mit "Die Geheimnisse der heiligen Messe" das tiefste Verständnis des Messopfers aus Sicht eines Dramatikers in der bisherigen Kulturgeschichte geschafft hat, müsste ein ganzes Autorenleben in Anspruch nehmen, wobei für die entsprechende Dramatik wohl noch Lope de Vega und vor allem Hofmannsthal mit dem Salzburger Welttheater einzubeziehen wäre. Die Wahl von Bärfuss ist, wie ich aus gut unterrichteter Seite erfahren habe, ist nebst augenblicklicher Prominenz noch dem Bestreben nach Beachtung im Tagesanzeiger zu verdanken, wobei es ja schwierig ist, für so ein Stück heute noch Publikumsmassen zu mobilisieren. Meine Eltern haben ab 1937 regelmässig die von Eichendorff, dem bedeutendsten kath. Autor der Romantik , übertragene Version jeweils besucht und waren von den damaligen Aufführungen, noch vom genialen Theatermann Eberle inszeniert, zutiefst beeindruckt. Eberle war seiner Zeit voraus, heute versucht man, in der Zeit zu bleiben. Im Gegensatz zu Tim Krohn hat sich indessen Baerfuss mit seinem Text immerhin nicht blamiert. Selber bedaure ich, dass eine noch ernsthaft als religiöse Auseinandersetzung geschaffene Version von Hansjörg Schneider, wie Hürlimann ein geborener Dramatiker, nicht zum Zuge gekommen ist. Schneider gehört zu den allerbesten noch lebenden Schweizer Autoren, sondert auch in Interviews keinen Dummschwatz ab, seit Kindheit übrigens geprägt von der Spannung des katholischen Dorfes Würenlingen und dem protestantischen Zofingen. Bei seinem in Luzern aufgeführten Jesus-Stück hat der Regisseur die Auferstehung weggelassen, das muss man sich heute nun mal als Autor offenbar bieten lassen! In Einsiedeln kam Schneider nicht zum Zuge, weil seine Erfolgszeit als Dramatiker länger zurückliegt und er seit Jahrzehnten auch in der Boulevard-Presse keinerlei Senf mehr absondert.


      PS. Die Kritik v. M. Ammann respektiert die Aufführungsleistung, zeigt aber mit der "Vernunft" als Klosterfrau, bei Eichendorff ist es die Weisheit, Maria-Sophia, dass Bärfuss die geistigen Voraussetzungen für diese Arbeit fehlten. Er hätte auch ein Festspiel für den Dalai Lama kaum geschafft, den Auftrag aber vermutlich trotzdem angenommen. Es hat dies von ihm auch niemand erwartet, es war eine Auftragsarbeit, die wie viele andere nicht in die Schweizer Literaturgeschichte eingehen wird.

      • user
        Meier Pirmin 22.07.2024 um 12:18

         Schneider, ein Autor übrigens, der seit Sennentuntschi, immerhin bedeutender als der gleichnamige volkskundlich unkompetente Film, an Altersweisheit zugelegt hat.


        .Noch wichtig als Ergänzung zu Max Ammann: Die Bezeichnung "Autor" ist aus neuplatonischer Sicht als einer der 100 Namen Gottes, wie die orientalische Mystik sich ausdrückt, aus meiner Sicht als einer dieser 100 Namen Gottes zulässig. Die Handschrift Gottes in der Natur ist gemäss dem Schweizer Philosophen Troxler, liberaler katholischer Romantiker u. Kritiker von Klosteraufhebung und Jesuitenverbot "unser aller Text". Das darf man sehr wohl sagen, das hätte auch Jacob Böhne unterschrieben, wichtigster prot. Mystiker. Man muss respektieren, dass Bärfuss, der vom katholischen Kosmos wirklich keine Ahnung hat, sich aus seiner Sicht Mühe gegeben hat für einen für die Spielleute verwendbaren Text. Bei aller Umstrittenheit war und ist Hürlimann 24 Stunden täglich Katholik, was man auch seinem Einsiedeln-Roman "Der Rote Diamant" entnehmen kann. In dem Punkt unterschied er sich nicht von Calderon und Eichendorff, zu schweigen von dramatischer Begabung.