Heinrich Böll hat im Jahr 1958 die Satire «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» veröffentlicht. Darin nahm er den Opportunismus derer aufs Korn, die bereits wieder daran waren, die Positionen zu räumen, die sie wohl oder übel im Zuge der Entnazifizierung hatten einnehmen müssen. Sosehr Bölls Werk in diesem Sinn zeitgebunden ist: Es lässt sich auf Anpassung, Feigheit sowie moralisch flexible Charaktere anwenden, wie sie auch heute anzutreffen sind.
Worum geht’s? Doktor Murke erhält vom Intendanten des Rundfunkhauses den Auftrag, einen zwei Mal halbstündigen Vortrag von Bur-Malottke, einem angesagten Literaten, zu überarbeiten. Dieser hat über Kultur doziert und dabei siebenundzwanzig Mal den Begriff «Gott» verwendet.
Mühsame Operation
Im gesellschaftlichen Klima, das sich in den fünfziger Jahren bereits wieder ändert, ist Bur-Malottke seine Diktion bald nach der Aufnahme nicht mehr geheuer. Er möchte, dass Gott durch die Formulierung «jenes höhere Wesen, das wir verehren» ersetzt wird. Aber das ist nicht ganz so einfach, wie es scheint. Denn während der Begriff «Gott» nur im Genitiv anders lautet («Gottes»), muss «jenes höhere Wesen, das wir verehren» in jedem Kasus von Bur-Malottke im Studio neu gesprochen werden: «jenes höheren Wesens, das wir verehren», bis hin zum Vokativ: «Oh, höheres Wesen, das wir verehren!»
Doktor Murke muss diese Wortklauberei zusammen mit einem Tontechniker umsetzen. Die mühsame Operation gelingt. Aber damit ist der Verwicklungen nicht genug: Die Aufzeichnung wird durch das Einsetzen der Wortschnipsel um über eine Minute länger. Der Intendant genehmigt es. Das motiviert wiederum Bur-Malottke zur Forderung, alle seine Beiträge für die Rundfunkanstalt, die rund 120 Stunden Sendezeit umfassen, müssten ebenfalls dem neuen Geist der Zeit entsprechend überarbeitet werden.
Bölls Satire hört sich im heutigen Kontext an wie eine Persiflage auf die Verunstaltungen, mit denen die Gendersprache den Leser malträtiert. «Doktor Murkes gesammeltes Schweigen» ist aber auch eine Persiflage auf die Kirchensprache. Und wohlgemerkt: Auch hier geht es nur vordergründig um Wörter, die herausgeschnitten und durch andere ersetzt werden. Hinter dem zeitgenössischen Auftrag an Doktor Murke verbirgt sich eine Anpassung des Inhalts, zu dem man sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr eindeutig bekennen möchte.
Aus der klaren und verständlichen Sprache der Bibel – «Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein» (Matthäus 5,37) – und des kirchlichen Lehramts ist bei bischöflichen und professoralen Rabulisten nicht selten ein esoterisch angehauchter spiritueller Edelschrott geworden. Der Zeitgenosse versteht ihn oft kaum noch, und manchmal hat man den Verdacht, er solle ihn auch gar nicht verstehen. Statt sich zu unserem Herrn Jesus Christus zu bekennen, schwadroniert man vom «Bruder Jesus» und von seiner Praxis. Statt dem Wort Jesu nachzuleben, «Darum geht und macht alle Völker zu meinen Jüngern» (Matthäus 28,19), wird von «Inklusion» und «Vielfalt» salbadert. Anstelle der allgemeinen Berufung zur Heiligkeit wird die «gleichberechtigte, glaubwürdige und solidarische» Kirche postuliert. Und der maskuline dreifaltige Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist – wird politisch korrekt zu einem sächlichen «höheren Wesen, das wir verehren». Je mehr verbalen Raum dieses Wesen einnimmt, umso mehr wird es zum Phantom.
Dröhnendes Schweigen
Selbstverständlich endet Bölls Geschichte mit einer Pointe. In einer Zigarettenschachtel liegen immer noch die siebenundzwanzig Schnipsel herum, die den auf Zelluloid gebannten Gott enthalten. Was tun damit?
Ein findiger Hilfsregisseur hat eine Idee. Er muss für eine Religionssendung einen Beitrag einspielen. Im Manuskript fragt der Atheist: «Wer denkt noch an mich, wenn ich der Würmer Raub geworden bin?» Es folgt dröhnendes Schweigen. Er fährt fort: «Wer wartet auf mich, wenn ich wieder zu Staub geworden bin?» Neuerliches Schweigen. «Und wer denkt noch an mich, wenn ich wieder zu Laub geworden bin?» Wiederum Schweigen.
Zwölf solche Fragen sind es, die mit bleiernem Schweigen beantwortet werden. Ein bisschen viel Schweigen, finden der Tontechniker und der Hilfsregisseur. Deshalb schneiden sie das Schweigen heraus und schenken es, zusammengeklebt, Doktor Murke. Der hört sich das gesammelte Schweigen seiner Interviewpartner gerne an, weil er so das Wortgeklingel, dem er tagtäglich wehrlos ausgesetzt ist, besser ertragen kann. Sodann montieren der Hilfsregisseur und sein Techniker zwölf der siebenundzwanzig «Gott»-Schnipsel anstelle des Schweigens ins Tonband der Religionssendung.
Man darf gespannt sein, wann auch die Kirche ihr dröhnendes Schweigen wieder mit klarer Sprache durchbrechen wird. Die Argumente der Atheisten sind da. Sie waren stets da und werden es immer sein. Die Frage ist nur, ob die Kirche mit ihnen schweigen will oder ob sie den Mut hat zu sprechen: von dem Gott, der zu uns gesprochen hat durch seinen Sohn Jesus Christus, den wir verehren.
Dieser Artikel erschien am 15. Dezember 2022 im Feuilleton der Neue Zürcher Zeitung
Kommentare und Antworten
Bemerkungen :
dann dürfte es einen Weg aus diesem Schlamassel geben. Wir müssen wieder die Sprache unseres Glaubens benutzen (und wo nötig neu erlernen). In ihr gibt es viele Begriffe, die klar definiert sind, und die eigentlich jedem Gläubigen bekannt sein sollten. Wenn wir im Dialog jeweils zuerst Stunden damit verbraten, herauszufinden, was die andere Seite konkret unter den verwendeten oder neu geschaffenen Begriffen versteht, um dann feststellen zu müssen, dass dies für die Sprechenden selbst nicht klar ist und/oder dass die Definitionen jederzeit nach Bedarf geändert werden, ist eine vernünftige Diskussion von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und wenn der einfache Gläubige ständig mit neuen Begriffen und/oder Definitionen bombardiert wird, wird er sich früher oder später aus diesem Debattierclub verabschieden.
Herzlichen Dank, Herrn Grichting, der NZZ und auch swiss-cath für die Veröffentlichung!