Das heutige Innerthal. Niemand ahnt, dass auf dem Grund des Sees das alte Dorf liegt. (Bild: Badener, CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Kirche Schweiz

Wenn ich einen Barkeeper statt der Monstranz sehe

Am 9. August 2024 jährte sich zum 100. Mal die Kirchensprengung und die Flutung des Dorfes Alt-Innerthal im Wägital zugunsten eines Stausees. Im Gedenkgottesdienst an dieses Ereignis, bei dem viele Dorfbewohner ihre Heimat verloren, predigte Weihbischof em. Marian Eleganti über die damalige Sprengung der Kirche und die heutige Flutung des christlichen Glaubens.

Liebe Brüder und Schwestern

Wie der Tempel in Jerusalem, so ist jede Kirche mit dem Kirchenschiff, dem Allerheiligsten, dem Chorraum usw. ein besonderer Ort. Sie ist ein Ort, von dem der Herr sagt: «Ich habe dieses Haus, das du gebaut hast, geheiligt. Meinen Namen werde ich für immer hierher legen, meine Augen und mein Herz werden allezeit hier weilen» (1 Kön 9,3).

Wenn wir in dieses Haus kommen, ruhen die Augen Gottes, blickt Gott auf uns. Der Himmel öffnet sich über uns. Da ist ein Ort, wo Gott wohnt: im Tabernakel leiblich eucharistisch gegenwärtig. Es ist klar, dass wir mit einem solchen Ort und Gebäude besondere Gefühle verbinden und auch Erinnerungen: Hier wurden wir getauft, gefirmt. Vielleicht haben wir hier geheiratet. Hier werden wir begraben werden. Auch unsere Vorfahren haben hier gebetet, geweint, eine Kerze entzündet, im Stillen gebetet. Die Geschichte der Familie spiegelt sich und ist mit dem Heiligtum verbunden. Und so ist es klar, dass die Sprengung eines solchen Hauses etwas mit uns macht. Es ist auch ein drastisches Bild, wenn ein Heiligtum gesprengt oder geflutet wird.

In unseren Zeiten werden viele Kirchen abgefackelt, in Frankreich unglaublich viele, aber auch anderswo. Die ganze Welt war bewegt, als die Kathedrale «Notre-Dame» in Paris gebrannt hat, weil alle haben intuitiv gespürt: Mit diesem Heiligtum ist eine Geschichte verbunden.
Die Geschichte des Tales, der Familien, die Geschichte des Christentums an diesem Ort, mitten in Paris oder mitten im Wägital. Wenn so ein Gebäude brennt, zerstört wird, ist es eine Zäsur. Zäsur heisst Einschnitt; nichts ist mehr wie zuvor. Und ein Schnitt tut weh, er verwundet Herzen.

Wir haben uns aber nicht versammelt, um zu Gericht zu sitzen über unsere Vorfahren. Aber wenn noch Narben da sind, die weh tun oder die spürbar sind, ist es gut, dass wir beten. Denn wir sind erlöst durch den Sohn Gottes, von dem es heisst bei den Propheten: «Durch deine Wunden werden wir geheilt.» Wunden können heilen und sie können – wenn wir sie in Liebe annehmen und Gott darbringen – etwas ganz Neues hervorbringen. Ein neues Leben hervorbringen, neue Horizonte öffnen für uns, für die Familien und auch für unsere Gesellschaft oder Dorf-Gemeinschaft

Und dieses neue Gotteshaus ist ja auch ein Symbol auf dem Berg, eine gut sichtbare Stadt auf dem Berg, dass das Leben trotzdem weitergeht, der Glaube unzerstörbar ist, dass Gott treu ist, dass Gott uns nicht verlässt und dass vielleicht sogar der Charme dieser Landschaft uns ein wenig entschädigt für das untergegangene Dorf, für die Entwurzelung von Familien, die wegziehen mussten. Bauern, die von Natur mit ihrem Grund und Boden sehr tief verbunden sind, umgesiedelt wurden, neues Terrain akzeptieren mussten, nicht mehr an diesem Ort leben wie ihre Väter. Das ist natürlich dramatisch und ich kann mir vorstellen und auch mitfühlen, dass das Widerstand geweckt hat, Verzweiflung, Not. Und auch nachhaltige Wunden gerissen hat, von denen wir hoffen und auch beten, dass sie heilen und dass wir nach vorne schauen.

Und in diesem Sinn ist dieser Vorgang – jetzt geh ich ein bisschen weg vom Wägital, in unsere Zeit – ein Symbol. Schaut, wir sind Christen. Das Christentum hat der Welt unglaublich viel gebracht. Es hat die Welt humanisiert durch das Evangelium vom barmherzigen Samariter, die Nächstenliebe, die Feindesliebe, das Bewusstsein, dass wir Kinder Gottes sind, dass also jeder eine unantastbare Würde hat vom Anfang im Mutterschoss bis zum Tod; dass wir diese Würde respektieren müssen, weil jeder Mensch unmittelbar von Gott gewollt, geliebt, ein Kind Gottes ist und wir ihm diese Würde nicht nehmen können.
Und dieses Bewusstsein hat eine ganz neue Gesellschaft aufgebaut, eine ganz andere Kultur, eine Umgangsweise auch. Ich habe als Kind gelernt, dass man einer alten Frau den Platz anbietet, dass man aufsteht, wenn ein Erwachsener kommt, dass man eine Bananenschale nicht auf den Boden wirft, weil es könnte jemand ausrutschen. Dass man fremdes Eigentum respektiert – einen Zug, ein Gebäude, eine Fassade nicht beschädigt. Das ist Christentum. Doch was ist, wenn das verblasst, wenn das geflutet wird durch neue Ideologien, wie wir sie heute haben? Und diese wurden ja auch bei der Eröffnungsfeier in Paris sozusagen uns allen vor Augen gestellt und auch zelebriert. Wenn ihr an die Szene mit dem Abendmahl denkt. Es war ganz klar eine Anspielung auf das «Abendmahl» von Leonardo da Vinci, das hat die Hauptdarstellerin Barbara Butch selbst gesagt. Und das Abendmahl steht für das Christentum in Europa. Und das wird jetzt sozusagen ersetzt durch eine andere Zivilreligion. Jesus sagt: «Ich bin die Wahrheit.» Wahrheit heisst im Evangelium griechisch «logos». Das bedeutet auch «Ordnung».  Mein Leib hat eine Wahrheit, er zeigt mir, dass ich (als Mann) für die Frau geschaffen bin, dass ich für die Liebe konzipiert bin von Gott und dass durch diese Verbindung etwas Neues, eine neue Dimension, unser gemeinsames Kind hervorgehen kann. Und diese Wahrheit ist meinem Leib eingestiftet. Das ist die Ordnung, die Gott im Anfang allen gegeben hat, die er offenbart hat. Und das Christentum hält diese Wahrheit hoch. Sie redet von ihr. Deshalb wird es auch bekämpft. Und so sollte in dieser Feier symbolisch Christus irgendwie ersetzt werden durch Bachus.

Bachus oder Dionysos ist ein alter griechischer Gott, der uns berauscht, der uns verführt, der uns die Vernunft wegnimmt, der auch zerstörerisch ist, der ein Hedonist ist. Da heisst dann die Religion: Alles geniessen; du bist selbst der Schmied deines Glücks; du selbst bestimmst, was du bist; nur die Gefühle zählen, nicht die Wahrheit usw. Und dieser Dionysos, der da im Vordergrund uns vorgeführt wurde, ist für mich ein Symbol dieser Ersatzreligion.

Was, wenn das Christentum weggeht, wenn es geflutet wird, durch andere Einflüsse zum Verschwinden gebracht wird? Auch weil wir Christen nicht mehr leuchten, weil wir nicht mehr überzeugte Christen sind, weil wir nicht mehr lebendige Zeugen sind, weil unsere Kirchen die meiste Zeit leer stehen, weil niemand mehr da betet usw. Das verändert eine Gesellschaft. Und was, wenn das Christentum einmal verschwunden ist, wenn es einmal geflutet ist, wenn die Kirche sozusagen einmal gesprengt ist – das meine ich jetzt nur symbolisch, allgemein – wie das in Afrika der Fall war, wo das Christentum vollständig verschwunden ist? Im Nahen Osten, in der Türkei, in Nordafrika waren alles christliche Länder, Bischofssitze – alles verschwunden.

Ich hatte ein Gespräch mit Kardinal Ratzinger, wenige Monate bevor er Papst Benedikt XVI. wurde. Und ich habe genau über dieses Thema geredet: über das christliche Europa. Und dann hat er mir gesagt: «Es kann sein, dass der Leuchter weggenommen wird.»

Das ist eine Anspielung auf ein Sendschreiben des Apostels Johannes an die Christengemeinden in Kleinasien, der heutigen Türkei, wo Christus durch ihn redet und schreibt und sagt: Ich werfe dir vor, dass du lau geworden bist. Kehr zurück zu deiner ersten Liebe, sonst werde ich kommen und den Leuchter wegnehmen (vgl. Offb). Das ist in der Lesung so beschrieben: «Doch wenn ihr und eure Kinder euch von mir abwendet und die Gebote missachtet, die ich euch gegeben habe, wenn ihr euch anderen Göttern zuwendet und diese anbetet» – Ideologien und was immer es sei – «Das Haus, das ich meinen Namen geweiht habe, werde ich dann von meinem Angesicht wegschaffen und zu einem Trümmerhaufen werden lassen» (vgl. 1 Kön 9,6f).

Das lässt dann Gott zu. Dieses Schicksal kann dem christlichen Europa durchaus blühen. Und ich bin überzeugt: Mit dem Verblassen des Christentums entsteht ein Leerraum, der sofort gefüllt wird von anderen Göttern. Und meines Erachtens kommt nichts Besseres. Das kann man auch in der Geschichte beobachten, kann man überall beobachten.

Deshalb die heutige Aufforderung, damit will ich schliessen: «Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, die geistige Opfer darbringt und die Gott gefällt» (1 Petr 2,5). Das ist unsere Berufung. Da zählt jeder.
Und da ist das geistige Haus noch wichtiger als dieses aus Mauern. Was hilft dieses Haus aus Mauern, wenn es leer ist, wenn darin nicht mehr gebetet wird, wenn der Chorraum umgewidmet wird in eine Bar oder in eine Kletterhalle oder was immer es sei? Schaut euch einmal an, wie Kirchen profaniert wurden, weil sie niemand mehr wollte, weil dort keine Gottesdienste mehr stattfinden konnten, weil es keine Priester mehr gab, weil die Gläubigen nicht mehr kamen. Dann wird das Gebäude verkauft und dann machen sie aus einem Heiligtum etwas total anderes. Und das tut weh. Wenn ich den Barkeeper da vorne sehe, wo früher die Monstranz auf dem Altar stand, das ist doch furchtbar.

Aber wir sind dafür verantwortlich, ob es in einem kleinen Tal ist oder in der weiten grossen Welt. In unserer Nationalhymne heisst es: Betet, freie Schweizer, betet, damit ihr eure Freiheit nicht verliert, eure Werte, die Ordnungen, die die Schweiz zu dem gemacht haben, was sie ist: ein schönes freies Land, in dem man seine Meinung frei äussern kann, in dem man Eigentum respektiert usw. Aber diese Tugenden gehen alle verloren, wenn wir so leben, als wenn es Gott nicht gäbe, und wenn es ihn gibt, ist er nicht wichtig für uns im Alltag.

Doch die Sportler in Paris, die haben keine doppelte Wahrheit, eine für den Sport, wo sie sagen: «Da hilft Gott nicht. Da zählt nur meine eigene Leistung. Ich bin der Schmid meines Glückes, ich habe es gemacht, ich habe das erreicht mit meiner Kraft, mit meiner Mühsal.» Das kann man auch auf andere Bereiche übertragen: «Ich hab dieses Unternehmen aufgebaut, ich bin reich geworden, ich kann mir das leisten, ich bestimme, was gut und böse ist, ich bestimme, wer ich bin und was ich sein will. Egal, Gott spielt keine grosse Rolle, es hängt alles von mir ab.»

Aber nein. Gabriel Medina lanciert sich nach einem unglaublichen Ritt über den Wellenkamm und zeigt nach oben in den Himmel wie sein Surfbrett und sagt: «Er hat mir geholfen. Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark durch die Gnade Gottes.» Das wollte er sagen. Ich habe es nicht aus eigener Kraft gemacht, ich bin schwach, aber mit IHM bin ich stark. Und das müssen wir uns auch sagen, weil der Herr ist bei jedem von euch, aber ist auch euer Herz bei IHM? Das ist die Frage.
 

Predigt von Weihbischof em. Marian Eleganti als Podcast auf «Radio Gloria».


Redaktion


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    Stefan Fleischer 13.08.2024 um 07:19
    Solange wir Gott immer nur als den liebenden und barmherzigen verkünden, was natürlich auch richtig ist, und nicht mehr ebenso als unseren Schöpfer und Herrn, und damit auch als den gerechten Richter der Lebenden und der Toten, müssen wir uns nicht wundern, wenn Gott den Menschen von heute immer gleichgültiger wird, und damit auch die Kirche immer belangloser.